Prof. Dr. Dr. Andreas Hillert ist Chefarzt an der Schön-Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee. Wissenschaftlich wie therapeutisch beschäftigt er sich mit der Interaktion beruflicher Belastungen und psychischer Erkrankungen. Im Interview erläutert der Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und psychotherapeutische Medizin, welchen Einfluss die Bonus-Mentalität auf das mentale Wohlbefinden von Bankern hat. Inhaltlich finden sich hier viele Parallelen zu dem, was in der Wissenschaft als „Gratifikationskrise“ bezeichnet wird.
Worin besteht das Gratifikationsproblem überhaupt?
Ich muss viel leisten und bekomme relativ dazu weniger zurück, als angemessen wäre. Diese Basis-Definition der Gratifikationskrise hat im Bankengewerbe sehr konkrete Implikationen: in den Jahren vor der Bankenkrise war Banker ein Beruf mit positivem Image. Wenn Sohn oder Tochter eben dort arbeiteten, konnte man als Eltern darauf stolz sein, seriöse Branche, gutes Einkommen etc. Aktuell ist dieser Berufsbild in der Öffentlichkeit zumindest ambivalent besetzt: hohes Einkommen, Nadelstreifenanzug und Zocker, was einen öffentlichen Vertrauensverlust und – relativ zum traditionellen Bild des Bankers – einen Image-Einbruch bedeutet. Und auch individuell mussten viele Banker deutliche Einbußen bei Gehältern und Boni sowie bei der beruflichen Autonomie verkraften, etwa die Begrenzungen des Kreditrahmens, persönliche „Überwachung“ durch mitunter jüngere „Streber“ etc.
Wie hängt dies mit der Unternehmenskultur der Banken zusammen?
Für mich stellt sich die Frage, ob es nach der Finanzkrise mit ihren einbrechenden Umsätzen überhaupt noch so etwas gibt, was man mit gutem Gewissen als Banken- bzw. Unternehmens-„Kultur“ bezeichnen kann.
Zumindest bei den Bankern, die hier als Patienten ankommen, wäre diese Kultur nicht angekommen. Spitzenbanker wie der ehemalige Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann haben ja wiederholt gezeigt, wie von oben herab agiert wird: Es gab eine Kündigungswelle nach der anderen, von der Betroffene mitunter erst aus der Presse erfahren haben.
Aber auch wenn die Vorgehensweisen formal „korrekt“ sind, ergibt sich für die Betroffenen zumindest eine „Gratifikationskrise“ und für die noch nicht-entlassenen Kolleginnen stellt es nachweislich ein – die psychosomatische Befindlichkeit belastendes – Damoklesschwert dar. Kennen Sie Banken, in denen diese fatale Dynamik offen diskutiert und nach Alternativen gesucht wird? Ich bin gerne bereit, solche professionellen Prozesse tatkräftig zu unterstützen…
Fördert das Anreizsystem Burnout und Depressionen? Und wenn ja wie?
Ja, zumindest was Stress-, Burnout- und Frustrationserleben anbelangt. Ob es im klinischen Sinne zu mehr Depressionen führt, müsste allerdings durch exaktere wissenschaftliche Untersuchungen erst noch bewiesen werden, was eine diesbezügliche Kooperation mit zumindest einer großen Bank voraussetzt. Kennen Sie eine, die daran Interesse hat?
Nein… Können Sie das noch ein wenig genauer erläutern?
Konkret: Durch steigenden Druck, Umsätze zu machen und zu verkaufen, sehen sich Mitarbeiter genötigt, Produkte an Kunden zu verkaufen, die diese nicht wirklich brauchen bzw. diese übervorteilen – und das auch ohne dass deren Vorgesetzte das direkt ansprechen müssen.
Auch die eigenen Ansprüche spielen eine Rolle. Ansprüche wie „ich wurde Berater, um Menschen zu helfen…“ werden auf diese Weise pervertiert. Es wird Banker geben, die damit gut zurechtkommen oder auch ansonsten Verkaufsgenies sind. Die, die dann als Patienten hier oder bei Kollegen anderweitig vorstellig werden, erleben diesen Druck und die dahinter stehende Dynamik als existenziell: In einem solchen Fall eine gute Berufsunfähigkeitsversicherung zu haben, wird dann intuitiv als Ausweg gesehen… und auch genutzt. Solche Konstellationen, etwa bei freien Finanzmaklern mit 42 Jahren, sind heute dezidiert keine Seltenheit. Auch immer mehr Banker streben aus psychischen Gründen an, nicht mehr im Verkauf bzw. Kundengeschäft, sondern im Innendienst zu arbeiten.
Wie können sich Betroffene von der einseitigen Anreizkultur befreien?
Womit wir bei dem Kern dessen angekommen sind, was Gratifikationskrisen ausmacht. Rein wirtschaftlich-rational dürfen auch Banker, die keine bzw. reduzierte Boni bekommen, überleben bzw. nicht verhungern. Psychologisch gesehen sind diese aber natürlich nicht angetreten, um nicht zu verhungern, sondern um ihrem Einsatz entsprechend erfolgreich zu sein. Das Gefühl, immer mehr arbeiten zu müssen, teils unter Missachtung seiner ursprünglichen Werte und Ziele, führt zu einem anhaltenden Stress-Zustand, der laut guten Studien u.a. von Prof. Johannes Siegrist längerfristig zu erhöhten Raten von Herz-Kreislauferkrankungen führt und auch zu einem erhöhten Risiko psychischer Erkrankungen.
Ihre Frage läuft ein Stück weit auf Münchhausen heraus, der sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen haben will… es geht um die Reflektion eigener Werte und Ziele, und, sollten sich diese nicht modifizieren lassen, auch um strategische Entscheidungen, etwa nicht mehr in dem betreffenden Beruf oder Bereich zu arbeiten.
Systemisch wäre wünschenswert, dass Arbeitgeber, in diesem Fall Banken, ihr betriebliches Gesundheitsmanagement nicht nur auf einen Beratungs-, Entspannungstrainings- und den Reparaturbetrieb fokussieren, sondern das hier besprochene Thema präventiv angehen: Wie kann ein kollektiv-systemischer Umgang mit den Herausforderungen des Marktes, jenseits von Personalabbau und Selektion aussehen? Das erfordert aber einerseits Mut, der offenkundig fehlt, und andererseits sind solche Strategien – leider – nie so messerscharf wirkungsvoll wie ein rascher Personalabbau und Restrukturierungen.