Werner Stiller ist eine Doppelkarriere gelungen, die auf den ersten Blick höchst obskur erscheint, bei näherer Betrachtung aber erhebliche Gemeinsamkeiten aufweist: Erst war er Superagent und später erfolgreicher Investmentbanker. Stiller fing nach seinem Physikstudium in der DDR und seinem SED-Beitritt noch in den 70er Jahren als Hauptamtlicher Mitarbeiter in der Auslandsspionage der Stasi an. 1979 lief er in den Westen über und bescherte der Stasi die wohl größte Niederlage vor der Wende. Anschließend versteckte ihn die CIA in St. Louis vor Mielkes Häschern, wo er einen MBA abschloss und bei Goldman Sachs anfing. Stiller gelang eine außerordentliche Zweitkarriere im Investmentbanking.
Wir haben Stiller um ein Interview gebeten – leider erfolglos. Daher haben wir seine 2013 erschiene Autobiografie gesichtet und die spannendsten Karrieretipps für Banker herausgefiltert:
1. Die Geheimdienstarbeit bietet ähnlichen Nervenkitzel wie das Trading
Die Doppelkarriere Stillers zeigt einige wichtige Gemeinsamkeiten. In beiden kommt es auf einen Informationsvorsprung und intellektuelle Fähigkeiten an und beide sorgen für einen besonderen Nervenkitzel. So schreibt Stiller zu seiner Berufswahl als Stasiagent: „Nachrichtenarbeit im klassischen Sinne [also nicht die moderne Telefon- und Internetüberwachung] vereinigt Elemente des Handels, das heißt Geben und Nehmen, und der psychologischen Einflussnahme in anregender Weise. Hinzu kommen Risikoeinschätzung und -beherrschung sowie Irreführung und Bluff – eine Freude für jeden Pokerspieler. Es dauerte nicht lange, und ich war überzeugt, meine Berufung gefunden zu haben.“
2. Auf Informationen und das richtige Timing kommt es an
Keine Frage, dem Informationsvorsprung kommt im Nachrichtendienstgeschäft und im Investment Banking – und dort namentlich im Trading – eine zentrale Rolle zu. Im Akademikerdeutsch wird dies auch als „asymmetrische Informationsverteilung“ zwischen Investmentbanken und ihren Kunden beschrieben. Doch damit nicht genug, jeder Trader weiß, dass es nicht nur auf ein Gespür ankommt, wo sich die Märkte hin entwickeln, sondern auch wann. Es kommt aufs richtige Timing an. „Im Geheimdienstgeschäft lernt man, Informationen zu speichern und auf den Moment ihrer besten Nutzbarkeit zu warten“, schreibt Stiller. Also hören Sie fortan genau zu, aber plaudern Sie nichts vorschnell aus.
3. Bei der Abwerbung von Mitarbeitern spielt Achtung eine größere Rolle als Geld
Wer im Banking eine Führungsrolle bekleidet und regelmäßig Fachkräfte anheuern muss, weiß: Die besten neuen Mitarbeiter gibt es bei der Konkurrenz. Denn heute wollen fast alle Firmen, dass neue Angestellte sofort anfangen können und nicht erst mühsam eingearbeitet werden müssen. Anforderungsprofile und Lebensläufe sollten daher möglichst zu 100 Prozent übereinstimmen. Doch solche Wunderlebensläufe finden sich nur bei der Konkurrenz.
Ganz ähnlich scheint es bei der Anwerbung von Doppelagenten zuzugehen. Dabei stellt Anerkennung ähnlich wie im Banking einen größeren Motivator als Geld dar. „Bei allen Geheimdiensten ist es so, dass man Doppelagenten dann gewinnen kann, wenn auf der anderen Seite jemand in seinem System nicht genügend anerkannt wird und dort nicht richtig vorankommt“, meint Stiller. „Wenn man ihm dann in Aussicht stellt, im anderen System hochgeschätzt zu werden, womöglich sogar als Held groß rauszukommen, fällt die Werbung relativ leicht. Mit Geld dringt man dagegen selten in eine gegnerische Zentrale ein.“ Wer also einen Mitarbeiter von der Konkurrenz abwerben möchte, sollte ihm bessere Karriereperspektiven und nicht nur mehr Geld bieten.
4. Agenten und Investmentbanker haben anscheinend denselben Webfehler
Wo andere Risiko scheuen, suchen sie es. Trader des alten Schlages und Agenten scheinen den gleichen Webfehler zu haben. Diese Auffassung vertritt zumindest Stiller. Seine Zeit als MBA-Student in den USA nutzte er jedenfalls ausgiebig: „In den Semesterferien machte ich mehrere Rundreisen durch den Süden, Westen und Norden der USA, lernte das Tiefseetauchen, fuhr Ski in den Rocky Mountains und erwarb die Lizenz als Privatpilot. Etwas Kitzel musste immer sein. An dieser Stelle habe ich offenbar einen Webfehler. Während andere Menschen dafür zahlen, Risiken zu vermeiden, gebe ich das Geld aus, um Risiko zu erleben.“ Ob eine Persönlichkeit wie Stiller heute die gleichen Karrierechancen wie früher hätte? Wohl kaum. Seit der Finanzkrise hat die Risikoscheu auch ins Investment Banking Einzug gehalten.
5. Im Investment Banking lässt sich das große Geld verdienen
Während seines MBA-Studiums fragte Stiller seinen Professor nach dessen Karriereempfehlung. Die Antwort konnte das ehemalige SED-Mitglied kaum glauben, dennoch beherzigte er den Rat: „Wall Street und Investment Banking war seine eindeutige Antwort. Er traute mir das offenbar zu und warnte mich aber: ‚Wenn du dort nicht 250.000 Dollar im Jahr verdienst, bis du nicht gut genug, dann such dir etwas anderes.‘“ Wohlgemerkt, diese Szene fand in den 80er Jahren statt. Auch wenn die Vergütungen heute nicht ganz so üppig ausfallen, zahlt die Branche doch immer noch besser als die Realwirtschaft.
6. Fangen Sie immer bei der ersten Adresse an
Zum Start seiner Zweitkarriere empfahl der Professor ihm Goldman Sachs – schon damals die erste Adresse an der Wall Street. Hier gab es nicht nur das große Geld, sondern auch große Chancen nach dem Ausstieg. „Zu meiner Zeit wurden die Partner [von Goldman Sachs] nach zehn Jahren in den Ruhestand geschickt, denn sie hatten jetzt genug verdient und sollten sich um den Einfluss in Politik und Gesellschaft kümmern, bis hin zur Wohltätigkeit“, erinnert sich Stiller. „Viele Finanzminister, Senatoren, Berater im Weißen Haus oder Gouverneure waren zuvor leitende Mitarbeiter bei Goldman Sachs.“
7. 265.000 Dollar netto sind zu wenig
Nach einiger Zeit wechselte Stiller von New York nach London, wo er im Fixed Income Sales arbeitete und vor allem für deutsche und Schweizer Kunden verantwortlich war. Als er sein erstes Jahresgehalt in den Händen hielt, scheint dem ehemaligen Kommunisten die Röte ins Gesicht gestiegen zu sein. „Im ersten vollen Geschäftsjahr 1984 [!] verdiente ich 265.000 Dollar netto. Mein Finanzprofessor hatte also nicht gelogen. Im Jahr darauf wollte mich sogar ein Konkurrenzunternehmen mit dem Argument abwerben, ich sei unterbezahlt“, erinnert sich Stiller heute schmunzelnd.
8. Stellen Sie Ihren Reichtum nicht zur Schau
Laut Stiller verdienten Investmentbanker mit ähnlichen Funktionen in Deutschland seinerzeit schmale 120.000 Mark. Anders als bei Goldman Sachs hätten die Deutschen damals jedoch erhebliche Zusatzgelder mit Insiderhandel kassiert – die deutsche Überwachung war laxer als in England. „Gab z.B. ein Kunde eine vielversprechende Aktienorder, dann kaufte der Banker zunächst mal für sich selbst und führte dann den Auftrag des Kunden zum bereits höheren Preis aus“, schreibt Stiller.
Doch es gab noch einen anderen Kulturunterschied: Während in Deutschland Banker ihren Wohlstand hemmungslos zu Schau stellten, war in England „Unterstatement“ gefragt. Mittlerweile haben sich auch deutsche Banken den Kulturwandel auf die Fahnen geschrieben. Motto: Verdiene gut, aber prahl nicht damit. Einige Investmentbanker scheinen das immer noch nicht verstanden zu haben.
9. Informieren Sie sich vor jedem Arbeitsplatzwechsel gründlich
In London erfuhr Stiller vom Mauerfall. Schnell war er von den neuen Geschäftschancen, die sich im Osten boten, überzeugt, und entschied sich kurzerhand seine Zelte in London abzubrechen und die Leitung der Investmentbank Lehman Brothers in Frankfurt zum 1. Februar 1990 zu übernehmen. Die Tage der Stasi waren gezählt und damit auch die Gefahr für den Ex-Spion.
„Doch der Schein trog. In hatte mich … zu wenig erkundigt und zu emotional entschieden. Ich hatte von einem edlen Pferd auf einen räudigen Gaul gewechselt. Lehman Brothers, nach außen eine der alten, ehrwürdigen amerikanischen Investmentbanken, war innerlich in einem traurigen Zustand und wirtschaftlich ziemlich angeschlagen“, schreibt Stiller.
10. Banken sind medienscheu
Nach der Wiedervereinigung gab es für Stiller keinen Grund mehr für das Versteckspiel vor der Stasi. Vielmehr gab er freimütig Interviews und nahm an Diskussionsrunden teil. Der Spiegel brachte sogar eine eigene Serie über den ehemaligen Doppelagenten. „In der eher zugeknöpften Bankenwelt sah man das gar nicht gern, und so endete 1996 meine Finanzkarriere in Frankfurt.“