An einem kalten und feuchten Dezembertag macht Warschau keinen einladenden Eindruck. Abseits der farbigen und pittoresken Altstadt besteht die polnische Hauptstadt aus einer Ansammlung von Betonbauten aus den 60er Jahren. Auch Paris sieht ähnlich homogen aus. Doch während die französische Hauptstadt vom Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann im 19. Jahrhundert gestaltet wurde, ist Warschau vom sozialistischen Einerlei der Nachkriegszeit geprägt. Die Tristesse wird durch den frühen Sonnenuntergang um 15.30 Uhr noch verstärkt. Der Verkehr in und aus der Stadt ist schrecklich – zumal die Taxifahrer kaum ein Wort Englisch verstehen.
Doch erste Eindrücke können trügen. So wird das sozialistische Einerlei immer häufiger von den glänzenden Bürotürmen des 21. Jahrhunderts aufgelockert. Einige Teile der Stadt ähneln eher Manhattan und Canary Wharf als der sozialistischen Betonarchitektur und immerhin lassen sich auch Uber-Fahrer mit Englischkenntnissen finden. Denn immer mehr Banken kommen nach Warschau. Sie haben bereits unzählige Leute eingestellt und ihre Pläne gehen noch weiter.
Der rasche Personalaufbau in Warschau
Erst in der vergangenen Woche hat Goldman Sachs angekündigt, weitere 250 bis 300 Leute in der polnischen Hauptstadt einzustellen. „Im Allgemeinen lassen sich hier Mitarbeiter recht leicht finden“, erzählt Brent Watson, der die Aktivitäten der US-Investmentbank in Polen leitet. „Innerhalb von anderthalb Jahren sind wir von 30 auf 530 Mitarbeiter gewachsen.“
Die Goldmänner stehen mit ihrem Enthusiasmus nicht allein dar. Bereits im September hat JP Morgan angekündigt, innerhalb von drei Jahren 3000 Stellen in Warschau zu schaffen. Standard Chartered will hier 500 Arbeitslätze aufbauen. Die Credit Suisse wiederum, die sich seit über zehn Jahren in Breslau angesiedelt hat, hat im September 2016 Büroflächen in Warschau angemietet und innerhalb von zwölf Monaten allein 600 Leute eingestellt. Und es sollen noch mehr werden. Die Credit Suisse verfolge eine Langzeitstrategie Arbeitsplätze nach Polen zu verlegen, erläutert Aneta Kocemba-Muchowicz, die das Büro der Bank in Warschau leitet.
Während infolge des Brexits die meisten Front Office-Jobs nach Frankfurt gehen, hat Warschau bei den eher quantitativ ausgerichteten Middle Office-Jobs die Nase vorn. Dabei handelt es sich um die am schnellsten wachsenden Profile in den modernen Finanzdienstleistungen, weshalb die Bedeutung Warschaus für das europäische Banking exponentiell steigen dürfte.
Zumeist Middle und Back Office- sowie IT-Profile
Unterdessen will Goldman Sachs die Profile der Warschauer Mitarbeiter ausweiten und zwar auf IT, Risikomanagement, Finance, Personalmanagement, und die Strategie des Wertpapiergeschäfts. Laut Jo Obstoj, die die IT des Geschäfts mit Anleihen, Währungen und Rostoffen (FICC) in Warschau leitet, diversifizierten sich die Profile exponentiell zur Größe der Niederlassung. „Derzeit haben wir FICC, Equities, Prime Services und Operations Technology in Warschau“, erzählt Obstoj. „Die Investment Banking Division (also die unterstützende IT der IBD) klopft bereits an unsere Tür, um nach Warschau zu kommen, und wir sehen auch immer mehr Marktfunktionen hierher wechseln.“ Die heutigen technischen Möglichkeiten erlaube es den Warschauer IT-Mitarbeitern aus der Ferne zu arbeiten. „In der Vergangenheit war der IT-Support in London angesiedelt, aber heute ist der Support digitalisiert. Daher beschäftigten wir die Support-Teams in Warschau und nur wenige in London.“
Vom kommenden Jahr an werden die die spannendsten IT-Jobs in der polnischen Metropole angesiedelt sein. Es gäbe auch Pläne, die Zahl der Entwickler in Warschau aufzustocken, die am Goldman Sachs-Flaggschiff Marquee arbeiten. Ähnliches gelte für Data Scientists und Spezialisten für Machine Learning. „Je mehr Teams hierherkommen und je erfolgreicher Warschau ist, desto mehr Unternehmen konzentrieren sich auf Polen“, berichtet Ilona Jeromin, die die erste Operations-Mitarbeiterin in Warschau war, als hier Goldman Sachs 2015 ihre Zelte aufschlug.
Eine ähnliche Entwicklung durchläuft die Credit Suisse. „Anfangs haben die Entwickler von London aus die Teams in Warschau und Breslau geleitet und sagten ihnen, was sie zu tun hatten“, erzählt Kocemba-Muchowicz. „Doch mittlerweile haben wir eher den gesamten Produktzyklus in Polen, wobei die Business Analysten und Entwickler hier angesiedelt sind und die polnischen Teams an Einfluss gewinnen.“
Polnische Unis bieten guten Talentpool
Indem Goldman Sachs, JP Morgan, Credit Suisse und Standard Chartered alle hunderte – und im Falle von JP Morgan sogar tausende – von Jobs in Warschau schaffen, stellt die Stadt so etwas wie den Ground Zero in der aktuellen Schlacht um die Talente dar. Obgleich sich die Credit Suisse im vergangenen Jahr auf das Anheuern von Mitarbeitern mit mehr als fünf Jahren Berufserfahrung konzentrierte, dürften doch die polnischen Studenten zu den Hauptnutznießern dieser Entwicklung zählen. Das Land verfügt über eine ungewöhnlich hohe Zahl von technischen und wirtschaftswissenschaftlichen Hochschulen, darunter die AGH in Krakau, die Technische Universität Krakau, die Technische Universität Warschau, die Kozminski Universität in Warschau, die SGH in Warschau und die Universität Warschau.
„In Polen gibt es 1,3 Mio. Studenten und ein großer Teil davon studiert IT oder Finance. Es handelt sich also um einen tiefen und breiten Talentpool“, beteuert Walton von Goldman Sachs. Laut Kocemba-Muchowicz profitiere Polen von seiner traditionellen Ausrichtung auf technische Studiengänge. „Selbst wenn Sie in die kommunistische Zeit zurückblicken, legten die polnischen Schulen großen Wert auf die technische und mathematische Ausbildung.“
Mit einem so großen Talentpool scheinen die internationalen Banken in Polen keinen Bedarf an ausländischen Bewerbern zu haben. Tatsächlich stammt die große Mehrheit der Beschäftigten von Goldman Sachs und der Credit Suisse aus dem Land. Dennoch sind beide Banken aufgeschlossen für ausländische Bewerber. „Wen wir einstellen, der muss Englisch sprechen. Polnisch ist dagegen nebensächlich“, betont Kocemba-Muchowicz. „Wir versuchen auch Absolventen von Unis außerhalb Polens für Warschau zu gewinnen“, sagt Rachel Boyd, die das Human Capital Management von Goldman Sachs für Kontinentaleuropa leitet. „Wann immer wir auf einem Campus in Europa auftauchen, präsentieren wir Warschau zusammen mit London. Besonders erfolgreich waren wir dabei, Absolventen von Bocconi (in Mailand) für Jobs in Warschau zu gewinnen.“
Wer aus dem Ausland kommt, dem hat Warschau mehr als nur Bankingjobs zu bieten. So dürften in Beförderungen in den schnell wachsenden Niederlassungen rascher erfolgen. Jenseits der sozialistischen Architektur, die auf die Zerstörungen im zweiten Weltkrieg zurückgeht, ist die Stadt grün. Sie besitzt sogar einen eigenen Nationalpark, der Teile der umgebenden Wälder umfasst. Für ein Land, in dem Schinken und Käse zu einem richtigen Frühstück gehören, ist die Stadt erstaunlich vegan. Die Polen haben auch einen Sinn für Lebensqualität: Es gibt viele Möglichkeiten für sportliche Betätigung und Radfahren. Bei Goldman Sachs finden im Sommer auf dem Dach Yoga-Sitzungen statt (und im Auditorium im Winter). Es gibt Backwettbewerbe, Weihnachspullover-Wettbewerbe und Ruheräume. Die Arbeitszeiten fallen oft kürzer als in London aus und auch das Pendeln ist kürzer.
Die große Zukunft des Bankenplatzes Warschau
Zu den Zugereisten gehört Thibaut Rouquette, der The Heart of Warsaw leitet, welches ausländischen Fintechts bei ihren Aktivitäten in Polen unterstützt. „Ich bin hierher aus Abenteuerlust gekommen“, sagt der Franzose. „Ich habe Warschau mit den Augen eines Unternehmers gesehen – es handelte sich um einen Ort, an dem noch viel gemacht werden musste. Schon in den zweieinhalb Jahren, in denen ich hier bin, war die Transformation unglaublich. Ich würde jederzeit auf die Zukunft Polens wetten.“
In der vergangenen Woche hat Rouquette eine Fintech-Konferenz in Kattowitz besucht. „Wir haben JP Morgan fünf stark wachsende Unternehmen vorgestellt“, erzählt er. „Sie waren interessiert, sich alle genauer anzuschauen.“
Der Aufstieg Warschaus dürfte das Back und Middle Office-Personal in Frankfurt, Zürich, London und Luxemburg beunruhigen. Allerdings steht die Arbeitsplatzverlagerung bei Goldman Sachs und der Credit Suisse in keinem direkten Zusammenhang mit dem Brexit. „Die Expansion in Polen hängt nicht mit dem Brexit zusammen“, versichert Watson. „Das wäre sowieso passiert. Ich bin seit Mai 2015 hier und damals war es bereits beschlossene Sache. Das Wachstum wurde durch unsere Fähigkeit gefördert, die richtigen Leute zu finden.“
Doch Polen hat weitere Vorteile. „Polen befindet sich in Mitteleuropa, womit es sich in einer komfortablen Zeitzone zwischen Asien und den USA befindet“, betont Kocemba-Mochuwicz. Unterdessen lobt Obstoj die Kompetenz der Polen. „Es waren tatsächlich drei junge polnische Mathematiker, die den Enigma-Code geknackt haben“, erzählt sie. „Kurz bevor der Krieg ausgebrochen ist, haben sie ihre Arbeit Alan Turing und seinem Team übergeben.“